Schmerzvolle Veränderungen
Russlands Transportsektor orientiert sich neu. Dank der engen Wirtschaftsbeziehungen zur EU war die Entwicklung des russischen Transportsektors vor dem 24. Februar 2022 v.a. nach Westen ausgerichtet. Doch der Beginn des Krieges in der Ukraine und die damit verbundenen beispiellosen Sanktionen machten den bestehenden Hoffnungen auf eine weitere Entwicklung der Branche mit der gleichen Dynamik ein Ende.
Der Schnitt ist radikal. Laut früheren Aussagen des amtierenden Leiters des föderalen Zolldienstes Russlands, Ruslan Davydov, während eines internationalen Zollforums betrug der EU-Anteil am gesamten Frachtverkehr aus Russland vor 2022 50% oder sogar mehr.
Jetzt ist er auf 16% gesunken, während der Anteil der asiatischen Länder auf fast 70% gestiegen ist und weiter wächst. Das grösste Wachstum und die bedeutendste Neuausrichtung der Güterströme ist im Falle Chinas zu beobachten, aber auch Indien und sogar Lateinamerika holen auf.
Gemäss mehrerer hochrangiger Transportbeamter bleibt die Lage stabil, da trotz der Sanktionen der Grossteil der russischen Güterströme bereits in den asiatischen Raum umgeleitet wurde. Die von Rosstat veröffentlichten Statistiken zeigen, dass die 2023 insgesamt transportierte Frachtmenge verglichen mit 2022 nur um 0,1% auf 8,7 Mrd. t zurückgegangen ist. Davon entfielen 1,2 Mrd. t auf die Bahn, 6,2 Mrd. t auf die Strasse, 32,9 Mio. t auf den Seeweg und ca. 500 000 t auf die Luft. In den ersten fünf Monaten 2024 setzte sich der Trend fort.
Schiene bleibt stark – aber wie lange?
Wie Mikhail Blinkin, wissenschaftlicher Direktor der Fakultät für Stadt- und Regionalentwicklung der Russischen Wirtschaftsuniversität, in der Hochschulpublikation HSE Daily sagte, treffen die Sanktionen v.a. den Luftverkehr in Russland. Dagegen sind ihre Auswirkungen auf den Schienenverkehr und die Produktion von Waggons und Lokomotiven deutlich geringer.
Ihm zufolge ist es angesichts der Fläche und Ausdehnung des Landes unter den gegenwärtigen Verhältnissen wichtig, den Binnenverkehr innerhalb Russlands substantiell auszubauen.
Die Situation der Branche scheint stabil zu sein, doch die Sanktionen und die faktische Schliessung westlicher Märkte für russische Exporteure haben zu einem starken Anstieg der Tarife für Gütertransporte mit sämtlichen Transportmitteln geführt. Spediteure beginnen bereits, unter dem weiter anhaltenden Druck zu ächzen.
Druck von innen und aussen
Während die Tarife für Schienentransport in Russland, der vom grossen staatlichen Betreiber RŽD dominiert wird und in dem es an Wettbewerb mangelt, seit 2022 offiziell um 50% gestiegen sind, dürfte das Wachstum in Wahrheit aber deutlich höher liegen.
Die gleiche Situation ist im Strassentransport zu beobachten, wo die Tarife aufgrund der Verringerung der Fahrzeugflotte und der massiven Abwanderung von Fahrern – nicht wenige wurden vom Militär eingezogen – zzgl. hoher Treibstoffpreise um das 2- bis 2,5-fache gestiegen sind.
Die Lage kompliziert, dass der Transportsektor Chinas Probleme durch das ständig wachsende Gütervolumen aus Russland bekommt. In Reaktion wendet der derzeit wichtigste Handelspartner Moskaus oft nicht wettbewerbskonforme Methoden an und erlegt dem Transport russischer Güter künstliche Beschränkungen auf.
So hat Peking seit Mai die Tarife für Schienengüterverkehr nach Russland und Belarus stark erhöht. Laut der russischen Analysten von Infotrans sind die Preise aufgrund einer Verringerung der Anzahl verfügbarer Container in China und langer Staus an der Grenze um 500 bis 800 USD gestiegen. Zeitgleich zogen auch die Preise für Seefracht aus China an: von 800 bis 1000 auf 1300 bis 1500 USD, je nach Abgangshafen.
Rückzug auf Russland selbst
Die Regierung ist sich dieser Probleme bewusst geworden und hat nach Abwägungen ein Investitionspaket genehmigt, das auf die Unterstützung des inländischen Transportsektors und die Entwicklung der nationalen Transportinfrastruktur abzielt. Nach jüngsten Aussagen von Premierminister Mikhail Mihustin ist von geplanten jährlichen Investitionen von umgerechnet knapp 18 Mrd. USD die Rede, wobei ihre Zuweisung Teil eines bestehenden Bundesprogramms ist.
Der Grossteil davon soll in die Entwicklung neuer Transportrouten nach Asien sowie in die Erhöhung der Transportkapazität der Baikal–Amur-Magistrale und der Transsib, Russlands längsten Bahnstrecken, fliessen.