Wahlkampf in «Suburbia»
«Entdeckungsreisen bestehen nicht darin, neue Länder zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.» Marcel Proust, (1871–1922), französischer Schriftsteller
Es gibt Entscheidungen, mit denen man ringt, lange. Eine davon ist mein Umzug von der Innenstadt in einen Vorort von Atlanta, der Hauptstadt von Georgia. Ich tue mich schwer mit «Suburbia»: den schmucken Häusern und manikürten Vorgärten, den Hundespaziergängern und dreiradfahrenden Kindern auf sanft geschwungenen Strassen – ein Idyll, gebrochen durch das ferne Brummen der Rasenmäher und das Surren von E-Lieferwagen.
Ja, ich vermisse das Heulen der Feuerwehrfahrzeuge und die wütenden Sirenen der Polizeiautos, das garstige Rauschen des «Rush-Hour»-Verkehrs und sogar das Unkraut im Vorgarten des Nachbars. Aber es gibt einen Trost. Mit meinem Umzug gehöre ich zur demographischen Gruppe in den USA, die im wilden Wahljahr 2024 heiss umworben ist: Vorstadtfrauen.
Seit langem kämpfen Politiker um die Gunst dieser Gruppe, die schon viele Namen trug und viele Gesichter hatte: Da waren die «Soccer Moms» in den 1990ern, die ihre Kinder zwischen Schule und Freizeitaktivitäten chauffierten. Die «Security Moms», die nach den Terroranschlägen von 9 / 11 ihre Häuser in Festungen verwandelten. Oder die «Zoom Moms», die Familienmanagement per Videochat erledigen.
Lange waren die Vorstadtfrauen ein weitgehend weisser, weitgehend geschlossener Block, treu einem traditionellen Familienbild verschrieben und politisch eine sichere Bank für die Republikaner. Noch 2016 gewann Donald Trump die Wählerstimmen in den Vorstädten, wenn auch knapp. Doch bei den Präsidentschaftswahlen 2020 drehten sich die Sympathien von «Suburbia» für die Demokraten. Und auch in den jüngsten Umfragen für die Wahlen am 5. November liegt Kamala Harris in der Gunst der Vorstädter leicht vorne.
Überraschend ist das nicht. Denn: Die Vorstädte der USA sind ethnisch gemischter, diverser, globaler geworden. Unter den neu Hinzugezogenen sind immer mehr kinderlose und berufstätige Frauen.
Es sind Angehörige jener Gruppe, die Trumps Vizepräsidentschaftskandidat
J.D. Vance als «kinderlose Katzenfrauen» bezeichnete. Die sollten seiner Meinung nach weniger Mitbestimmungsrechte haben, weil sie nicht in die Zukunft des Landes investierten. Ich gehöre zu dieser vermeintlich bedauernswerten Gruppe (auch wenn ich Katzen nicht ausstehen kann).
Der stete Zustrom aus den Stadtzentren hat dazu geführt, dass die Vorstädte heute politisch breiter und bunter aufgestellt sind. Auch spiegeln sich hier Entwicklungen, die im ganzen Land sichtbar sind: der «Gender Gap» zum Beispiel, die immer tiefere Kluft zwischen den Geschlechtern. Umfragen zufolge unterstützen die Mehrheit der Frauen Harris, die Mehrheit der Männer Trump. Analysen der vergangenen Wahlen zeigen auch: Frauen gehen in grösseren Zahlen wählen als Männer.
Ich habe versucht, all diese Statistiken vor Ort zu verifizieren, mit gemischtem Erfolg. Anders als in meiner alten Wohngegend hat kaum einer meiner neuen Nachbarn in «Suburbia» Wahlkampfschilder im Vorgarten aufgestellt, aber das mag vielleicht eher ästhetische als politische Gründe haben – ein makelloser Rasen ist hier sehr wichtig.
Aber es gibt einen anderen Indikator. Beim «early voting» können Wähler in den USA bereits vor dem eigentlichen Wahltermin an festgelegten Tagen ihre Stimme abgeben. Vor den Wahllokalen in meiner Nähe gab es in den vergangenen Wochen lange Schlangen. Die meisten, die zum Wählen anstanden, waren Frauen, jüngere und ältere; schwarz, braun, weiss. Ich habe mich gleich eingereiht.
Der Redaktionsschluss dieser ITJ war um 06.00 EST am 5. November – Wahltag. Dieser Beitrag entstand in der Woche davor.