Kurier, Botschafter und Seelsorger
«Es wird nie einfacher, du wirst nur schneller.» Greg LeMond, ehemaliger amerikanischer Radrennfahrer und Tour de France Gewinner.
Während Gleichaltrige im Militärdienst durch Schlamm krochen, fuhr ich als Zivildienstleistender mit einem elektrischen Fahrrad durch die Gegend. Für ein Jahr habe ich Einkäufe und Medikamente an Haushalte geliefert und damit die Verkehrswege um das Stadtzentrum entlastet. Was ich zu Beginn meiner Kurierzeit als Traumjob wahrnahm, entpuppte sich insbesondere in den kälteren Monaten als Durchhalteakt. Doch als Zusteller auf der letzten Meile war ich nicht nur dem Wetter ausgesetzt, sondern auch Bindeglied von unterschiedlichsten Bedürfnissen.
Permanent habe ich die Spannung von Interessen unterschiedlicher Anspruchsgruppen wahrgenommen. Worauf sich aber zunächst alle einigen können: Am besten ist es, wenn du schnell bist. Der Betrieb garantiert Lieferungen in drei Stunden. Je nachdem dauert dies jedoch nur einen Bruchteil der Frist – manchmal habe ich gar die Bestellenden auf dem Weg vom Einkauf nach Hause überholt. Dies hat dazu geführt, dass sich die Kundschaft an die rasche Lieferung gewöhnt und somit auch schneller misstrauisch wird: Haushalte haben als Konsequenz teils nach keinen zwei Stunden bei meinem Vorgesetzten oder Auftraggebern Beschwerden eingereicht, da die Lieferung ihrer Ansicht nach schon hätte da sein müssen. Das Büro verfügt nicht über Live-Updates der Lieferungen, weshalb Beschwerden zunächst als begründet eingestuft werden. Was darauf jeweils folgt, lässt mir heute noch beim blossen Gedanken daran einen kalten Schauer über den Rücken laufen: Der schrille Klingelton des Kurierhandys ertönt. Als Kurier habe ich spätestens nach dem dritten Anruf gelernt, dass die Person auf der anderen Seite niemals gute Neuigkeiten hat, sondern sie mich nur anruft, wenn etwas nicht nach Plan läuft.
Und es klingelt meist in den unmöglichsten Situationen, wie zum Beispiel beim Durchqueren des Kreisverkehrs oder beim ersten Bissen vom Mittagessen. Doch auch beim Telefon abnehmen gilt: je schneller, desto besser. Aber niemals während der Fahrt. Nicht nur unserer Sicherheit zuliebe, sondern auch, weil die orangenen Kurierjacken von jeder ortskundigen Person erkannt werden und ich als Kurier somit mitverantwortlich für die öffentliche Wahrnehmung unseres Dienstes gewesen bin – fast so wie ein Markenbotschafter.
Bei der Übergabe an Haustüren behält die Kurierschaft diese Rolle. Ob sich die Kundschaft wünscht, dass die Ware persönlich übergeben wird, oder ob sie deponiert werden soll, ist auf dem Lieferschein vermerkt. Diese Optionen repräsentieren aber bei weitem nicht alle Übergabearten:
Einige Personen sind jeweils froh, wenn Extraminuten eingerechnet werden. Nicht nur, um offene Fragen zum Betrieb zu beantworten: Sofern die Zeit gereicht hat, habe ich Müll herausgebracht, mir die Sorgen der Menschen angehört oder bin auch in Momenten des Trauerns beigestanden. Die Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten haben mich oft über den Feierabend hinaus beschäftigt.
Zu Beginn hielt ich mich an das allseits gepredigte Dogma: je schneller, desto besser. Nachdem ich mehr Kilometer vorzuweisen hatte, nahm ich mir heraus, diesen Leitsatz zu erweitern: je schneller, desto besser, aber es bleibt immer Zeit für die Kundschaft. Denn es sind ihre Weisheiten und ihre Dankbarkeit, die den Kurier beinahe genauso stark antreiben, wie der Elektromotor am Fahrrad.