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Von: Andreas Haug


Artikel Nummer: 50608

Bangladeschs Bombe tickt

Lieferverzögerungen und Preissteigerungen nach Unruhen und Regierungssturz. Am 8. August, drei Tage nach dem Rücktritt von Sheikh Hasina und ihrer Flucht nach Indien, stellten die Luftfrachtanalysten von World ACD fest, dass sich die Tonnagen Richtung Europa wieder erholten, schränkten jedoch ein, dass sie immer noch deutlich unter den Werten der entsprechenden Wochen des Vorjahres lagen. Das dicke Ende sehen noch andere Experten.


Die Gewaltausbrüche in Bangladesch mit hunderten Toten und der dadurch resultierende Regierungssturz werden langfristig Folgen sowohl für Importeure als auch Konsumenten haben – in Form von höheren Preisen für Bekleidung. Diese Prognose wagt Steffen Günner, Geschäftsführer Einkauf des Dienstleisters Bay City. Er kauft jährlich ca. 30 Mio. Teile für 20 europäische Marken, Handelsketten und Discounter in dem Land mit der achtgrössten Bevölkerung der Welt ein.

 

Damit widerspricht er Verbandsvertretern, die sich jüngst zurückhaltend über die Konsequenzen der Unruhen geäussert hatten. «In den nächsten Tagen und Wochen werden Verbraucherinnen und Verbraucher nichts spüren. Das ist korrekt. Aber spätestens Mitte 2025 werden die Preise für Mode anziehen», befürchtet der Einkaufsexperte.

 

Günner glaubt, dass die Händler und Discounter in Europa die steigenden Einkaufs- und Transportpreise weitergeben müssen. Obwohl fast alle Fabriken in Bangladesch nach einer zweiwöchigen Zwangspause – es waren offiziell von der Regierung angeordnete Ausgangssperren und «Feiertage» Anfang August – wieder geöffnet sind, gibt es jetzt schon Lieferengpässe und -verzögerungen: Derzeit stauen sich Stoffe, die Bangladesch insbesondere in China zur Weiterverarbeitung einkauft, bis zu drei Wochen im Zoll der Häfen und Flughäfen.

 

Das bestätigt auch Ralf Düster, Managing Director von Setlog, dessen SCM-Software «Osca» Bay City und rund 150 weitere Marken aus den Branchen Bekleidung, Elektronik, Nahrungsmittel, Konsumgüter und Hardware zur Steuerung der Lieferketten nutzt: «Zwei bis drei Wochen Verschiebung der geschätzten Ankunftszeit der Waren sehen und hören wir aktuell aus der Branche.»

 

Er hatte Mitte August Daten von 20 Unternehmen analysiert. Diese Fashion-Marken zusammengenommen kaufen mehr als ein Viertel aller ihrer Waren allein in Bangladesch ein.

 

Baustellen bei Zoll und Infrastruktur

 

Die Probleme bei der Verzollung rühren laut Günner daher, dass offene Stellen durch die Übergangsregierung noch nicht besetzt wurden. Doch der Zoll ist nur eine offene Baustelle, die andere ist die kaputte Infrastruktur. Bei den Gewaltausbrüchen zwischen Regierungstreuen sowie Oppositionellen und Studenten wurden zahlreiche Strassen und Gebäude beschädigt. Jetzt funktioniert beispielsweise der Bustransfer für Pendler zu ihren Arbeitsstätten nicht mehr richtig. «Im Schnitt arbeitet derzeit in den Textilfabriken nur 75% der Belegschaft», berichtet Günner.

 

Das bringt die Besitzer und Manager in den Fabriken unter Druck: Sie können Produktionspläne und die oft Monate im Voraus vereinbarten Liefermengen nicht einhalten. Und das wiederum führt in einen Teufelskreis aus nur teilweise oder nicht bezahlten Rechnungen der Importeure und ausstehenden Löhnen seit Beginn der Proteste Mitte Juli.

 

Spirale in die Cash-Flow-Krise

 

Doch die schlaflosen Nächte der Manager haben noch einen weiteren Grund: Nach den Streiks der Textilarbeiterinnen und -arbeiter hatte eine von der Regierung eingesetzte Kommission vor einigen Monaten eine Mindestlohnerhöhung um 56,25% auf umgerechnet 104 EUR ab Dezember durchgesetzt. «Diese Lohnerhöhungen sind bisher genauso wenig eingepreist wie die gestiegenen Energiekosten und die Inflation», erläutert Günner.

 

Er glaubt, dass viele Fabriken aus ihrer Cash-Flow-Krise nicht herauskommen werden. Aber wenn die Löhne und Gehälter nicht bezahlt werden, streiken die Angestellten erneut. «Zum Teil sind das nicht nur friedliche Streiks. Mitunter beschädigen sie auch ihre eigenen Arbeitsstätten», erläutert Günner die Folgen. Er geht davon aus, dass die Einkaufspreise, beispielsweise weniger als 1 EUR für ein Kinder-T-Shirt, für Handelsketten und Discounter hierzulande nicht mehr gehalten werden können.

 

Nachhaltigkeit auf dem Spiel

 

Allerdings scheuen viele Handelsketten – gerade jene, die nachhaltige Produkte anbieten – die Preissteigerungen der Lieferanten an die Verbraucherinnen und Verbraucher in den Exportmärkten durchzureichen: Sie überlegen sich Günner zufolge Preiserhöhungen zweimal, «weil ihnen Billigstanbieter, die das Thema Nachhaltigkeit aussen vor lassen, dann Marktanteile abgraben».

 

Sowohl Günner als auch Düster befürchten, dass Bangladesch trotz der grossen Kapazitäten in Zukunft seine Rolle als aufstrebende «Nähfabrik Europas» und zweitwichtigstes Exportland für Modeanbieter in Deutschland verlieren kann, falls sich die Lage nicht bessert.

 

«Das wäre auch in Sachen Klimaziele ein enormer Rückschritt», erläutert Düster. Denn auch in diesem Punkt habe Bangladesch, das aus dem Unglück von Rana Plaza 2013, als beim Einsturz einer Textilfabrik mehr als 1100 Menschen getötet und rund 2500 verletzt wurden, enorm gelernt habe, viel aufgeholt und sei deutlich weiter als andere Länder Asiens, bei denen das Thema Zertifizierung teilweise noch in den Kinderschuhen stecke.

 

«Und Bangladesch bietet zudem ein sehr gutes Preis-Leistungsverhältnis für nachhaltige Fashion», so Düster weiter. Die Nachhaltigkeitsoffensive des rund 170 Mio. Einwohner zählenden Landes ist ein Hoffnungsschimmer für die Textilwirtschaft. «Importeure, die nachhaltige Produkte anbieten wollen, überlegen sich sehr gut, ob sie Bangladesch als Produktionsland den Rücken kehren sollen», schliesst Düster.

 

 

 

Kasten

Die Textilindustrie in Bangladesch

Mit Waren im Wert von 7,1 Mrd. EUR und einem Marktanteil von 20% war Bangladesch 2023 (2012: 12%) nach China das wichtigste Bezugsland für Bekleidung für die Modebranche in Deutschland. 85% der Exporte des südasiatischen Landes entfallen auf die Fashion-Branche, die knapp 4000 Textilfabriken mit mehr als 4 Mio. Beschäftigten zählt, hauptsächlich Arbeiterinnen.

 

 

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